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Reise nach Rumänien, Teil 4, Sibiu

Reisebericht von Wolfgang Rill    



Wir kommen nach Sibiu.
Die Stadt liegt in hügeligem Gelände, einige Kirchtürme überragen sie.
Es wird nicht angehalten.

Wir kommen nach Sibiu.

Die Stadt liegt in hügeligem Gelände, einige Kirchtürme überragen sie.
Es wird nicht angehalten.

  2. Sibiu

Am Ortsausgang nach Norden stehen wir in einer langen Schlange vor dem Bahnübergang. Fünf Minuten lang kein Zug. Weitere drei Minuten lang auch nicht. Dann dampft eine kleine Lokalbahn mit Holzwaggons vorüber und es dauert noch mal zwei Minuten, bis ein Wärter die Schranken hochschraubt. Fußgänger und Radfahrer haben es besser. Sie laufen ungeniert über die Schienen.

An diesen Schranken werde ich noch viel Zeit verbringen, was ich jetzt noch nicht weiß.

Eine lange Gerade, dann in Kurven einen Hügel hinauf. Oben eine geschwungene Biege und wir sehen die ersten Häuser der Heimat.
Rechts die obligatorische Kolchose, dann fahren wir in die Hauptstraße von Großscheuern ein. Das Dorf ist über einen Kilometer lang. Aber kein reines Straßendorf. Immer wieder gehen Seitengassen ab und weiter hinten scheint es sogar Parallelgassen zur Hauptstraße zu geben.

Auf der Hälfte die Kirche mit einem Platz, der zum Bach hinunter abfällt. Hier haben wir immer die Pferde getränkt, sagt Vater. Am Ende des Dorfes eine flache, leicht ansteigende Linkskurve. Voraus ein paar Hütten, die blau gekalkt sind, im Gegensatz zu den übrigen weißen Häusern.

Und in der Kurve ein Lehmweg, der noch weiter nach links ab geht. Einseitig ist er von Ge-höften gesäumt, gegenüber gibt es eine Böschung zur höher gelegenen Straße.

Das dritte Gehöft links ist es.
Hier ist die Heimat. Hier wurden meine Tanten, Onkels und mein Vater geboren, hier haben sie als Kinder im Lehm gespielt. Großvater hatte hier als Lehrer und Prediger seine Residenz. Großmutter war in diesem Haus die Predigerin, die Frau des Predigers.

Und hier haben hundert, zweihundert, vielleicht dreihundert Jahre lange unsere Vorfahren gelebt. Die liegen jetzt auf dem Gottesacker hinter dem Bach. Nur die, die mit Napoleon gezo-gen sind, vielleicht nicht.

Ein kurzes Hupen, dann öffnen sich die Seitentür und das Hoftor gleichzeitig und ein Men-schenhaufen quillt hervor.
Meine zwei Tanten sind da, eine Menge Kusins und Kusinen, deren Kinder und sonstige Verwandte. Sie heißen Bagli und Steppes und Lukes, Lisbeth und Maria und so weiter.
Kaum einen der Namen kann ich mir auf Anhieb merken.
Ein ausführliches Schulterklopfen, Abküssen, Umarmen setzt ein.

Eine ältere Frau aus der Nachbarschaft stürmt mit einem Tablett heran. Darauf viele kleine Stamperl, der Begrüßungsschluck. Ich probiere zum ersten Mal den so berühmten wie illegal gebrannten Zuika. Pflaumenschnaps mit einem hohen Prozentsatz an Alkohol und Identifikati-onswert. Zuika ist mehr als ein Schnaps. Es ist ein Inbegriff siebenbürgisch-sächsischen Lebens-gefühls.

Die Gläschen sind bauchig und haben oben einen breiten goldenen Streifen, was festlich wirkt. Alle sind in ihren besten Klamotten erschienen. Die Männer in sauber gebürsteten schwar-zen Anzügen, die Frauen in langen Röcken, ebenfalls schwarz, mit einer weißen Schürze davor, und die jüngeren in weißen, gestärkten Blusen, hier und da mit bunten Bordüren besetzt. Es ist wie ein hoher Feiertag.

Die Verwandtschaft aus dem „Reich“ ist gekommen.

Wie viele Hoffnungen, offene und geheime Wünsche, bange Erwartungen und Ängste ver-binden sich nicht damit.

Inzwischen steht das Auto auf dem Hof und ist Gegenstand neidvoller Blicke. So ein schönes Auto! sagen sie zu unserem sehr durchschnittlichen und schon sieben Jahre alten Caravan, der durch die Reise nicht sauberer geworden ist.
Einstweilen wird nur die persönliche Habe vom Dach gezogen.

Ihr werdet müde sein, sagen die Frauen. So eine lange Fahrt. Über zweitausend Kilometer. Ja, es war anstrengend, sagt Mutter. Sie hat sich schon an den fremdländischen Akzent der Leute gewöhnt und daran, dass sie Kuchel sagen und nicht Küche. Sie kennt den Akzent von Opa und Oma, von Besuchen siebenbürgischer Verwandter in Fulda und von einer Fahrt nach Dinkels-bühl zum Siebenbürgertreffen.

Untereinander sprechen sie ihren siebenbürgischen Dialekt, den sie Sächsisch nennen. „As däjlich Brît gäw es hekt!“ betet eine der Verwandten kurz bevor es ans Essen geht.
Es ist ein sympathisches, ein wenig altertümliches Sprechen, das herauskommt, wenn sie sich in Hochdeutsch auszudrücken versuchen. Und da ist ja auch das Wolfgang; von dir haben wir schon so viel gehört. Sollst auf die höhere Schule gehen und gut lernen. Hast schon das Einjäh-rige. Bist ein herziger Junge, und schon so groß. Ich fühle mich geehrt.

Auf dem Hof ist eine lange Tafel mit weißem Tischtuch aufgebaut. Belegte Brote und Kaffee. Butter steht auf zwei Tellern ebenfalls auf dem Tisch. Sie haben einen Kredit aufgenommen, murmelt Walter. Sonst gäb´s keine Butter.

Ich kann nicht schlafen. Es ist später Nachmittag. Sie haben uns Zimmer zugewiesen, die im Hochparterre des Hauses von der guten Küche abgehen. Zwei gehen rechts ab, eine Kammer ge-radeaus.
Im ersten Zimmer rechts wohnen Walter und ich. Es ist die gute Stube, das Wohnzimmer, of-fenbar sonst nie benutzt, höchstens zu Weihnachten. Ein altertümliches Vertiko mit Schnitzerei-en. Dazu passend ein schwerer Tisch und sechs Stühle, eine Glasvitrine und zwei Sofas. Alles reichlich bestückt mit Nippes aus Porzellan, Engelchen und Tänzerinnen, gehäkelten Deckchen, bestickten Tüchern.
An einer Wand der röhrende Hirsch in reich verziertem Goldrahmen, auf dem Boden ein schwerer, schon etwas abgetretener Teppich. Ein Herrgottswinkel mit Kreuz und Kerzenstän-dern. Die Fensterläden zugeklappt, nur wenig Licht dringt herein.

Und überall der Geruch nach Mottenkugeln, den ich schon aus Ungarn kenne. Ich stoße den Laden eines Fensters ein wenig auf.

Der Weg vor dem Haus staubig und menschenleer im Abendlicht. Vom Hof her Tritte und leises Murmeln. Es ist das Zimmer an der Ecke zur Hofeinfahrt. Walter schläft den Schlaf des gerechten Automobilisten. Er schnarcht ein wenig auf seinem Sofa.
Eine Weile betrachte ich sein Gesicht im diffusen Licht. Er sieht aus wie ein alt gewordener kleiner Junge. Mein Lieblingsonkel. Noch weiß ich nicht, dass er zwei Jahre später Selbstmord begehen wird.

Was tu ich hier? Warum habe ich eingewilligt in diese Fahrt? Hätte auch zu Hause bleiben können. Meine Eltern haben mich schon lange nicht mehr so im Griff, dass sie mich zu dieser Reise hätten zwingen können.

Nein, ich wollte mit. Heute, vierzig Jahre später, glaube ich, es war die Frage, wer ich ei-gentlich bin, wegen derer ich mitfuhr. Vielleicht bin ich ein Siebenbürger-Sachse? Vielleicht sogar ein Rumäne? Oder – noch verrückter – ein Zigeuner?

Vielleicht komme ich auf dieser Reise sogar um? Köstlicher Gedanke. Meine Eltern haben mich nicht mit einer Identität ausgestattet. Vielen geht es so, ich weiß. Es führt dazu, dass man schon früh anfängt, verschiedene Rollen auszuprobieren.

Nacheinander war ich das naive angepasste Kind, der gedankenschwere Grübler, der Witz-bold, der kleine ungehobelte Prolet, der abenteuerlustige aber rechtschaffene Pfadfinder, der un-gebändigte Autotramper, der verschwiegen-geheimnisvolle Künstler, zum Schluss der zügellose Säufer und einiges mehr schon mit meinen siebzehn Jahren.

Manche der Rollen kannte ich aus meiner Umgebung, manche habe ich mir angelesen. Nie war eine stabil. Wer bin ich? Wer bin ich, verdammt noch mal? Vielleicht bin ich ein Sieben-bürger, ein Rumäne, ein Zigeuner? Und dann dieses Mädchen von der Grenze. Diese ungarische Französin. Wie schön sie war. Wie schön es wäre, wenn … Ich bräuchte dann keine Rollen mehr. Mit ihr – das wäre etwas Größeres als alle Spiele.

Ich öffne leise die Tür zur guten Küche. Niemand da. Das Alltagsleben spielt sich in den un-teren Kammern des Hauses ab. In der zweiten Küche, die offenbar zugleich auch Waschküche ist, treffe ich meine Tanten Maria und Katharina. Sie kochen etwas auf einem gemauerten Holz-herd mit Eisenplatte.

Mamaliga, sagt Katharina, schmeckt gut. Es ist eine gelbliche Pampe aus Maismehl mit gro-ßen Fettaugen. Riecht nicht schlecht.

Die Verwandtschaft hat sich verlaufen. Man will den Leuten aus dem Reich Ruhe gönnen. Später soll es noch ein warmes Essen geben.

Der Garten ist wirklich lang. Ein schmaler Streifen Land, der leicht abschüssig bis an einen kleinen Bach reicht. Eingefasst von einem vielfach durchlöcherten Holzzaun. Bohnenstangen, ein Bottich aus Beton, Gemüsebeete, sogar ein kleiner Kartoffelacker.
Die Scheune gegenüber hätte mich als Kind interessiert. Sie ist voller Gerümpel. Hölzerne Erntegeräte, ein paar Koffer, sogar ein hölzernes Spinnrad. Alles unter einer dicken Staub-schicht. In den letzten Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen dringen, tanzt der Staub. Kein Laut. In der ganzen Umgebung überhaupt kein Laut.
Alle paar Minuten fährt mal ein LKW draußen auf der Straße vorbei. Und ein paar Vögel pfeifen. Aber sonst Stille. Eine Katze streicht um die Pfosten. Ich beginne mich zu langweilen.

Sibiu, Rumänien, 2015

Wir sind schon vier Tage da.
An einem Tag war ich mit Vater in der Stadt. Er lief kurz mit mir über den kleinen Ring, dann rüber zur Heltauer Gasse und schon waren wir im Hotel „Römischer Kaiser“ verschwun-den, das jetzt „Imparatul Romanilor“ heißt.

Weiß gedeckte Tische in einem großen Saal, ein wenig vergilbte Pracht aus alten Zeiten an den Wänden, Gemälde und Stuck und Kellner in fadenscheinigen schwarzen Anzügen mit wei-ßen Schürzen.
Wir sind die einzigen Gäste. Neben dem Hotel Grand (?) soll es das beste Restaurant in der Stadt sein. Die Speisekarte sehr lang. Französiche Crepes, russische Pieroggen, polnische Enten-brust, Hirschbraten, Karpfen blau. Hinter den rumänischen Namen stehen die deutschen klein gedruckt auf dem holzigen, abgegriffenen Papier.
Alles ist ein bisschen verwischt. Die Karte ist offenbar mit einem Ormig Vervielfältiger ab-gezogen.

Ich versuche es mit Crepes. Die seien leider ausgegangen, sagt der Kellner steif mit einer Hand auf dem Rücken. Nun, dann nehme ich das Schaschlik.
Das sei leider ausgegangen, sagt der Kellner.
Sagen Sie uns doch einfach, was gerade da ist, sagt Vater. Pariser Schnitzel, Creier (Hirn mit Ei), und Gratar (geröstetes Fleisch), sagt der Kellner. Wir entscheiden uns für Gratar und Creier.

Vater bestellt nur pro Forma. Er isst kaum noch etwas, seit er ein Gerippe ist. Viel wichtiger sind das Bier, das es zum Glück noch gibt, und der kleine Zuika, den er dazu bestellt. Zu seinem Glück wohlgemerkt, denn ich werde nachher die Mühe haben und die Peinlichkeit, ihn betrun-ken zum Schweinemarkt (?) zu bugsieren, wo Walter uns im Auto abholen will.

Das Fleisch und das Hirn sind schmackhaft, wenn auch sozialistisch einfach mit etwas gerös-teten Kartoffelchips, Weißkraut und Rotkraut garniert und auf abgestoßenen Tellern serviert. Nach dem Essen überlasse ich Vater für eine Weile seinem Bier. Er wird sowieso soviel trinken wie er will. Da einzugreifen habe ich schon vor Jahren aufgegeben.

Ich schlendere draußen ein wenig durch die Heltauer Gasse. Sie heißt zwar Gasse, ist aber ei-ne breite Geschäftsstraße. Ehemals die feinste Einkaufsstraße der Stadt.
Alte Häuser links und rechts, alle ein wenig schmuddelig aber ehemals wohlhabender Leute Domizil, das sieht man noch an dem Stuck der Fassaden und am verrosteten Schmiedeeisen um Balkone und Fenstersimse.

Vielerlei Läden mit zugeklebten Schaufenstern oder mit einem spärlichen Angebot an Klei-dern und Hausrat. Gegenüber dem Hotel ein Laden mit Siebenbürgen-Kitsch. Kleine Püppchen in rumänischen und siebenbürgischen Trachten, bestickte weiße Tücher, in Weichholz geschnitz-te, buntbemalte Figürchen von Pfeife rauchenden Hirten und Kutschern mit Fuhrwerken.

Daneben eine Verkaufsstelle für Lotterielose und Zigaretten. Snagov soll ich rauchen, sagt Vater. Das Volk raucht Carpati oder gar Maraczeszti. Von denen gibt es besonders viele, wenn die Heuernte gut war. Snagov gab es schon im Hotel.
Der Kellner hat sie geöffnet auf einem Tellerchen serviert, wie bei den feinen Leuten. In der ersten Phase, als er noch einigermaßen klar reden konnte, hat Vater mich über die Preise und den Schwarzkurs informiert.
Offizieller Kurs ist viereinhalb Lei für eine Mark. Der Schwarzkurs schwankt zwischen elf und dreizehn Lei für die Mark.
Nach Schwarzkurs kostet ein komplettes Essen mit Kompott zum Nachtisch und zwei Bier eine Mark siebzig.
Das Päckchen der guten Zigaretten kostet fünfundzwanzig Pfennig, der Liter Benzin zehn, das Päckchen Maraczesti acht.

Hier lässt sich´s leben, habe ich gesagt, auch wenn ich Maraczesti nach einem Proberauchen vorgestern wegen Hustenanfalls nicht mehr anfasse.

Einen anderen Tag wollen wir das schöne Wetter ausnutzen und ins Schwimmbad gehen.
Es gibt eins in Hermannstadt. Tante Maria entschuldigt sich mit Hausarbeit, Katharina und Lisbeth, die Asthmakranke Tochter von Maria, gehen mit. Mutter ist auch dabei.

Walter bringt uns nur hin. Viel lieber würde ich mit ihm etwas unternehmen, sage aber nichts.

Vater hat keine Badehose und leiht sich eine, die im Schwimmbad liegen geblieben ist.
Sie ist wohl vergessen worden, weil sie viel zu knapp geschnitten ist. Sein halber Sack lugt beim Gehen hervor. Dazu das Knochengerüst wie bei einem KZ-Häftling und das leichte Kopf-wackeln unter Alkohol.
Er bemerkt nichts, hat schon wieder ein, zwei Bier getrunken und setzt auch auf der Wiese des Schwimmbades, die eher ein Acker ist, eine neue Flasche an den Hals.

Tante Katharina, eine hoch gewachsene, stabile Frau, sieht so aus, als habe sie im Leben nichts anderes getragen als schwarze Röcke und bestickte Blusen, Wassereimer und Suppentöpfe.
Sie ist eine Bewohnerin des Dorfes, harte Feldarbeit gewohnt, Sonntags einen Kirchgang in feiner Tracht und einmal im Monat einkaufen fahren in die Stadt oder zum Markt gehen mit schweren Körben aber keinesfalls einen Aufenthalt in einem Schwimmbad.
Ihre Haut ist käseweiß, nur am Nacken gebräunt. Sie sieht hier genauso deplaziert aus wie mein Vater.

Der Versuch, westliche Freizeitkultur zu spielen, schlägt gründlich fehl. Niemand fühlt sich hier wohl auf dem Acker mit der Betonwanne in der Mitte. Sie hat schräge Wände, die Wanne, man kann sich leicht verletzen, wenn man ins trübe Wasser will.
Die Holzbuden ringsum stammen sicher aus den dreißiger Jahren. Wie beim KDF sieht das aus, sagt Mutter mit ein bisschen Sehnsucht in der Stimme. Zum Glück sind wenig Menschen da. Die Hermannstädter kennen ihr Schwimmbad offenbar und meiden es.

Da sind wir nun extra für dich hier her gefahren und jetzt willst du gleich wieder weg, sagt Mutter.

Ich habe nicht darum gebeten.

Und ich hab gedacht, du würdest dich freuen.

Katharina würde mich so nicht unter Druck setzen. Sie hat mehr Feingefühl. Es hilft aber nichts, ich will weg.

Einigen wir uns so: Ich will nichts, sage keine Wünsche, aber lest mir bitte auch keine von den Augen ab.
Macht eure Sachen, die ihr hier zu tun habt, aber lasst mich in Ruhe. Schleppt mich nicht in solche Schwimmbäder!

Sibiu, Rumänien, 2015

Unternehmungen wie Schwimmbad und Römischer Kaiser sind aber nur kurze Unterbrechungen der Haupttätigkeit: Besuche zu machen und zu empfangen.
Schon nach dem Frühstück klopft es an die Tür zur guten Küche.
Ein Männerkopf reckt sich um die Türkante: Na, seid ihr schon wach? Kommen wir zu früh?
Großes Hallo – der Schubert Edmund und seine Steffi, na so was.
So eine Überraschung.
Natürlich kommen sie nicht zu früh und wir sind auch schon wach. Im Gegenteil, wir freuen uns und hätten sie schon gestern erwartet.

Der Mann trägt das übliche schwarze Jackett und die Hose aus grobem Stoff, die Frau die üb-liche bestickte Bluse mit Rock.
Bescheiden setzen sie sich auf die Wandbank, bis wir fertig gefrühstückt haben. Vater bringt dem Mann gleich einen Pawli (?), wie man ein Gläschen Zuika auch nennt.

Das Gespräch verfällt in den Siebenbürger Singsang. Mich stört das nicht, denn sie sprechen von Menschen und Sachen, die ich ohnehin nicht kenne. Wenn ich mich konzentriere, kann ich mich einhören und einen Teil verstehen.

Es werden die alten Zeiten hervorgekramt: Weißt du noch, wie … und was ist denn aus dem Tobbes geworden? … Im Krieg geblieben … sieh mal an, das habe ich noch gar nicht gewusst … Und die Doro, die ist verheiratet, mit dem Schaub Christian aus Heltau, stell dir vor … Der Schaub Christian, ach ja der, der hat doch … hat der nicht einmal … . Schulkameraden offenbar.
Manchmal werden die Stimmen leise und verschwörerisch. Selbst hier zu Hause trauen sie sich nicht, alles laut und direkt zu sagen.

Tante Maria hat mir am zweiten Abend erklärt, warum das so ist: Die Zeit, in der man mög-lichst nirgends Deutsch sprach, ist zu kurz her. Über „ihn“ spricht man schon gar nicht, sagt sie leise.
„Er“, das ist Ceaucescu. Sie flüstert den Namen nur. Und noch kürzer her ist die Zeit, als es unmöglich war, dass jemand von draußen aus dem Reich einfach zu Besuch kommt und hier bei uns auf der Bank sitzt.

Wir haben uns auf der Holzbank neben der Schweinekuchel getroffen, von der aus man in den Garten schaut. Die Vögel sind schon ruhig. Nur ein Abendwind streicht durch die Obstbäu-me und die Katze streicht noch um die Ecken der Scheune. Weißt du, das ist für mich immer noch wie ein Wunder, dass ihr da seid.

Der Hans, der hat´s ja vorher schon mal geschafft. Aber der musste noch im Hotel schlafen, durfte uns nur tagsüber besuchen. Sie ist eine rundliche Person, auch das Gesicht rund und freundlich.
Jetzt werden ihre Augen feucht und sie wischt eine Träne weg. Er hat jetzt Mamaia gebaut, wirst es ja kennen lernen, und Saturn und Venus sind in Arbeit. Da muss er mehr Leute reinlas-sen. Auch ein paar zu uns.

Maria, was heißt „eingereicht“? Gestern habe ich das schon gehört und heute Morgen wieder.
Sie fasst mich erschreckt am Unterarm und schweigt.

Wer hat eingereicht? Was, der? Hat er tatsächlich? Und du gar auch? Oder denkst du nur dran? Doch, ich hab eingereicht. Vor kurzem, im April – dauernd benutzen die Leute dieses Wort.

Manchmal lassen sie einen raus. Tröpfchenweise, murmelt sie nach langer Pause.
Er kriegt dann den Pass und darf raus zu euch.

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Aber „einreichen“ ist eine haarige Sache. Im Land bist du danach vogelfrei. Du bekommst schlechtere Arbeit oder gar keine. Deine Kinder werden in der Schule auf die Seite genommen und befragt. Und niemand weiß, ob der Pass je
wirklich kommt.

Manche warten schon Jahre.
Und wenn du ihn kriegst?
Dann musst du alles, was du noch besitzt, zurücklassen.
Das Haus, den Garten, die Verwandten.
Aber eins sag ich Dir, jeder der hier ist würde ohne Gepäck und auf Strümpfen zu euch nach Westdeutschland laufen, auf Strümpfen!

Du auch?

Sicher. Vielleicht nicht ohne … ach lass mal.

Es ist jetzt schon fast dunkel. Oben in der guten Küche klappert Geschirr. Du sollst auch ein bisschen verstehen, wie wir hier sind, sagt sie. Schließlich bist du ein halber Sachse.
Forschend und fragend sieht sie mich von der Seite an.
Wie soll ich ein Sachse werden, wenn die alle Bundesrepublikaner werden wollen, denke ich, und versuche Mitgefühl und Respekt aufzubringen, aber es gelingt mir nur zur Hälfte, vermut-lich zur sächsischen Hälfte.
Der anderen, der Fuldaer Hälfte bleiben diese Leute mit ihrem sentimentalen, gewichtigen Gehabe, mit ihrer altertümlichen Sprache und dem dick aufgetragenen Familiensinn fremd.

Sie wollen mich ja kennen lernen, sie sind herzlich und offen und auch neugierig auf mich.
Manchmal sagen sie „das Wolfgang“ zu mir.
Aber wie soll ich Maria jetzt erklären, wie es in Fulda auf dem Gymnasium zugeht, wie wir in der Pause in der Raucherecke stehen und über Biersorten reden, wie wir mit den Kumpels abends in der Bauernschänke am Flipper stehen.
Ich bin ja kaum noch daheim. Ich habe auch ein großes Ziel, so wie sie: Raus zu kommen.

Nicht aus dem Land, sondern aus dieser Familie. Weg von diesem Vater und dieser Mutter. Würde sie das verstehen? Michael, mein Vater, ist doch ihr Bruder.
Außerdem ist mir noch wichtig, möglichst bald den Führerschein zu machen.
Wichtiger als das Abitur, denke ich. Und außerdem ist mit Mädchen hier gar nichts. Das kann ich Maria auch schlecht erklären, dass ich mir so sehr eine Freundin wünsche.

Bisher habe ich keine passende zu Gesicht bekommen. Die Mädchen im Dorf stehen wohl alle mit Schürze am Herd.
In der Stadt gibt es hübsche Rumäninnen mit Minirock. Aber die sehen nicht so aus, als könnte man sie einfach ansprechen.
Und ob die überhaupt Deutsch können? Morgen soll es nach Heltau gehen. Dort wohnt Cous-in Lukas.
Der hat einen Sohn und eine Tochter. Von mir aus darf es auch eine Cousine sein, denke ich.
Aber das sage ich Maria nicht.

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WolfgangRill