Magazin Reiseberichte

Reisen nach Rumänien, Teil 1, Eine faszinierende Französin

Reisebericht    



Heute ist mir durch den Kopf gegangen, wie es wäre, wenn ich mal meine Rumänienreisen beschreiben würde. Ich war vor langer Zeit siebenmal dort.

Medias, Sibiu, Cluj, Costinesti- klingende Namen, fremde Namen – das war in den siebziger Jahren. Ich war siebzehn, zwanzig, zweiundzwanzig.

Habe einiges erlebt, vieles vergessen, aber manche Bilder und Episoden leben noch in mir: Der cioban, der Schafhirte, der im Scheinwerferlicht auftaucht. Es ist eine einsame, gottverlassene Gegend im Karpatenvorland. Das Auto ruckelt über Schlaglöcher. Die Straße kann sich nicht entscheiden: Will sie aus Asphalt sein, aus Schotter oder aus Lehm? Die Licht-strahlen fallen für einen Moment in eine Wiese hinein und da steht er hinter einer Kurve.

Auf einen knorrigen Stab stützt er sich, gebeugt unter der Last des zotteligen Schaf-fellmantels. Schlapphut, langer Bart und ein Hund an seiner Seite, hinter ihm schwarzes Ge-büsch – alles da. Eine Erscheinung aus dem Mittelalter. Ein rumänischer Klassiker. Ob er heute noch da steht? Rumänien ist inzwischen in der EU. Ein offenes Land. Man sagt, sie bekämpfen sogar ernsthaft und mit einigem Erfolg die Korruption. Schade eigentlich. Aber für das Land sicher gut.

Wozu das alles noch mal hervorholen? Erinnerungen erzählen ist immer Selbst-inszenierung. So wie es auf dem Papier steht, war es nie, nur so ähnlich. Das Thema ist nicht nur Rumänien, das Thema ist auch der Milchbart der dort mit leerem Magen hinter dem Steuer sei-nes Käfers, Modell Standart, unsynchronisiert, Baujahr 1956, hockt und in der Nacht ungarische oder rumänische Straßenschilder zu entziffern sucht.

Seine Unrast und Erotomanie, aber auch seine Neugier, sein Mut, seine Wut sind das Thema. Er hat sich nicht geschont, damals. Ich will ihn auch nicht schonen.

   1. Opel Caravan

Die erste Reise nach Rumänien findet statt, als ich 17 bin, also im Jahr 1966. Eigentlich bin ich sogar erst 16, aber im September werde ich 17 und in den letzten zwei Jahren bin ich ge-wachsen.

Die Fahrt ist die letzte von drei Reisen, die ich mit meinen Eltern überhaupt je unternommen habe. Wir haben einen Opel Rekord Caravan, für damals ein geräumiges Auto.

Er wird voll gepackt mit meinem Vater, meiner Mutter, meiner Oma und meinem Opa väter-licherseits, meinem Onkel Walter, mir, mindestens acht Großpackungen Sunil, vielerlei getrage-nen Hosen, Jacken, Pullovern, zwei gebrauchten Strickmaschinen, Medikamenten, Stützstrümp-fen, unserem alten Toaster, einem Tonbandgerät Marke Telefunken, zwei Beatles- und einer Stones-Platte und Rasierklingen und Kugelschreibern für die Grenzen.

Die gebrauchte Waschmaschine, die Fernsehapparate und Tiefkühltruhen, die erwünscht ge-wesen wären, haben keinen Platz mehr. Nicht mal auf dem Dach, wo auf einem stämmigen, selbst geschweißten Dachgepäckträger, der das Auto in voller Länge überragt, die Koffer von Oma und Opa ruhen, die kleinen Reisetaschen von Onkel Walter und mir, die Lederkoffer mit Schnallen von Vater und Mutter sowie weitere Persil- und Perwollpackungen. Überspannt ist alles mit einer alten Plane aus unserer Werkstatt, die bestimmt nicht wasserdicht ist.

Das Auto ist überladen, sagt meine Mutter. Wie viele Personen dürfen da eigentlich rein? Sechs, sagt mein Vater. Ich glaube sechs. Steht in den Papieren, müssen wir später mal nachse-hen. Selbst in nüchternem Zustand neigt er dazu, die Dinge kreativ zu formen, so dass sie passen und keine Schwierigkeiten machen.

Jeder weiß, dass in Deutschland in einem normalen PKW nur fünf Personen zugelassen sind. Müssen halt sehen, dass wir heil durch Deutschland und Österreich kommen, sagt Onkel Walter. Danach ist es egal. Ich freue mich auf das Land, in dem es egal ist, wie viele Personen in einem Auto sitzen. Das fand ich immer schon besser.

Walter ist der Fahrer. Mein Vater hat schon seit Jahren keine Fahrerlaubnis mehr. Es hatte eine Kette von Führerschein-Entzügen gegeben, die ich als Kind miterlebte. Gern verschwand er aus heiterem Himmel für einige Tage mit Auto und Geld aus dem Geschäft. Wenn er zerschla-gen und verkatert zurück geschlichen kam, war das Geld weg, das Auto bisweilen auch und der Führerschein sowieso. Einmal hat er fünf Wochen für betrunkenes Fahren im Wiederholungsfall absitzen müssen.

Wir sitzen auf. Auf der Vorderbank Onkel Walter hinter dem Steuer, in der Mitte mein Va-ter, außen ich. Hinten Mutter und Oma und Opa, der in der Mitte. Opa ist schon sehr alt. Manchmal bringt er im Kopf die Dinge durcheinander. Aber er will noch einmal die Heimat sehen, sagt er immer.

Schon als wir aus unserer Ausfahrt auf die Straße biegen merken wir, wie schwer das Gefährt ist. Es neigt sich und die Stoßdämpfer setzen mit einem Ruck auf, als es über die Bordsteinkante geht. Rückzus´ sind wir dann ja leichter als hinzus´, sagt mein Vater.

Walter fährt vorsichtig. Muss mich erst mal an den Wagen gewöhnen, sagt er. Bis Würzburg fährt er siebzig, ab dort auf der Autobahn neunzig bis Nürnberg. In der Gegend von Passau sind es dann hundert, unsere normale Reisegeschwindigkeit dort, wo es die Straße zulässt. Man fühlt sich sicher bei ihm.

Anfangs gibt es nicht das, was bei uns zu Hause „dicke Luft“ heißt. Jedem ist bewusst, dass die Sache „anstrengend“ werden wird. „Anstrengend“ ist ein Lieblingswort meiner Mutter. Es bezeichnet bei ihr sowohl die Schwierigkeit, ein schweres Sofa aus unserem Möbelladen bei Kunden in den vierten Stock zu hieven, als auch die, ein normales Gespräch zu führen.

Mich lassen sie weitgehend in Ruhe. Ich passe mich auch weitgehend an. Mutter hat Respekt vor mir, weil sie mir intellektuell nicht gewachsen ist. Sie hat nur ein sehr geringes Verhaltensrepertoire den Menschen gegenüber und auf die meisten Plattheiten und Vorwürfe aus ihrem Mund habe ich inzwischen vernichtende Antworten.

Vater hat Respekt vor mir, weil er mir ebenfalls verbal nicht gewachsen ist und er bei Streits ständig Gefahr läuft, dass ich ihn korrigiere, sprachlich und inhaltlich.

Oma und Opa werden nicht schlau aus mir, jedes Mal, wenn sie bisher glaubten, sie kennen mich nun, war ich schon wieder ein anderer.

Wir sind früh am Morgen losgefahren und kommen ohne Zwischenfälle am späten Abend in Nickelsdorf an der ungarischen Grenze an.

Kleinere Streitereien, wann und wo Pinkelpause gemacht werden muss oder über die Schnapsflasche, die Vater plötzlich hervorzieht, nicht gerechnet. Um des lieben Friedens willen interveniert Mutter nur, als er Walter hinter dem Steuer auch ein paar Schlucke anbietet.

Vater ist bald betrunken und schläft. Oma und Opa nicken auch ein. Draußen das Fichtelgebirge, der bayrische Wald, die Wachau. Mutter lehnt ihr müdes Haupt an Opa. So ist es, als füh-ren Walter und ich allein.

Wir reden wenig. Ich habe es damals schon aufgegeben, ihn nach Indochina zu fragen. Walter ist nämlich der jüngste der vier Söhne meiner Oma und er hat den Krieg am schlechtesten verkraftet.

Als ich noch ein ganz kleiner Junge war, vielleicht drei oder vier, da war er bei uns in Fulda gewesen. Er hatte uns besucht und auch eine junge Frau war manchmal dabei. Dann verschwand er plötzlich und blieb für Jahre weg. Plötzliches Verschwinden ist in unserer Familie ein öfter auftauchendes Phänomen.
Als er wieder kam hieß es, er sei bei der Fremdenlegion gewesen. Welch ein abenteuerliches Wort. Es roch nach Gewehren und Männerkameradschaft, nach Sandstürmen, Arabern und Ka-melen.

Aber er sprach nicht darüber. Nicht mal, wenn er betrunken war. Nur einmal hat er mir er-zählt, dass seine Einheit in Indochina auf einem Strand geschlafen habe. Und in der Nacht sei die Flut gekommen. Alles war nass und salzig und sie mussten Zelte und Waffen ins trockene Hinterland retten.

Walter hat große Schwierigkeiten mit seiner Arbeit und seiner Frau, so viel habe ich mitbe-kommen. Mit Helga hat er vier Kinder, die sind alle noch klein. Helga ist eine gute und herzli-che Person. Trotzdem schaffen sie zusammen kein harmonisches Heim, sondern nur eine Radau-bude in ihrer Wohnung bei den Großeltern. Dauernd „wackelt die Wand“, wie er öfter sagt.

Ich grübele, wie das dort wohl ist, wo wir hinfahren.

Vater erzählt gern und sentimental von seinem Heimatdorf Großscheuern. Wie er „auf Pfer-den groß geworden“ sei. Wie sie Wasser am Hofbrunnen holten. Wie er beim Tischler in Her-mannstadt nach der Schule eine Lehre angefangen habe.

Wie er dann, als der Krieg bevorstand, Hals über Kopf nach Österreich geflohen sei, um nicht in die rumänische Armee eingezogen zu werden, denn dort wurde noch geprügelt.

Von den drei Brüdern und zwei Schwestern erzählte er, von Maria und Katharina. Und von deren Kindern. Ein Lukas kam vor, eine Ciri und eine, deren Namen ich vergessen habe. Hieß sie Efghenia? Aber so richtig anschaulich sind seine Berichte nicht. Man kann sich nicht vorstel-len, wie das war, z. B. „in den Birnbäumen“, einem Stück Land vor dem Dorf, das Großvater gehört hatte.

Sie hatten dort manchmal gefeiert und Birnen geerntet. Auf Nachfrage erwähnte er die rumä-nischen Namen und Worte. Großscheuern heißt Sura Mare, Kleinscheuern Sura Mica, Her-mannstadt Sibiu, Klausenburg Cluj. Brasov und Sigishoara, Alba Iulia und Timisoara kommen vor, in letzterem sollen die Banater Schwaben wohnen, ganz andere Leute als die Siebenbürger Sachsen in Hermannstadt.

Mehr als die Namen, die immerhin exotisch und melodisch klingen, interessieren mich aber die Mädchen, die es dort geben würde. Ich werde der reiche Junge aus dem freien Westen sein. Natürlich nehme ich mir vor, das nicht raushängen zu lassen und immer hübsch bescheiden auf-zutreten.

Es ist schon lange dunkel, als wir in Nickelsdorf eintreffen. Die ungarische Grenze heißt Hegyeshalom und soll nicht weit sein.

Treu dem Familienprinzip „von allem nur das Billigste“ kommen wir in einem Privathaus un-ter. Onkel Hans, der große Organisator unter den Brüdern, hat von Fulda aus schon vor Wochen brieflich bestellt. Ich schlafe auf einer Luftmatratze auf dem Boden, Onkel Walter auch. Das Doppelbett im Raum teilen sich einerseits Oma und Opa und andererseits Mutter und Vater.

Wenigstens Walter bräuchte ein eigenes Bett, brummelt Vater. Walter sieht auch etwas blass und zittrig aus. Es waren immerhin knapp neunhundert Kilometer in siebzehn Stunden. Dann müssten wir uns ein ganzes Zimmer dazumieten, sagt meine Mutter. Lohnt sich das wirklich? Sie sieht Walter zweifelnd an. Nicht nötig, antwortet Walter. Wird schon gehen.

Vor der Grenze haben wir Bammel.

Alle werden noch stiller im Wagen, als wir in der langen Warteschlange stehen. Wir haben Pässe mit Transitvisa. Aber ob die Kommunisten da drüben nicht irgendeine Schikane erfinden?

Nach anderthalb Stunden stehen wir unter dem Dach der Polizei- und Zollkontrollstelle. Es gibt Rückfragen, Formulare zu unterschreiben und noch einmal Rückfragen. Vater, Mutter, Oma und Opa sind beschäftigt, Walter steht teilnahmslos herum und offenbar wird es „anstrengend“.

Opa spricht ungarisch. Die Zöllner sagen ihm etwas, er soll es übersetzen. Aber er hat es ver-gessen. Sie sagen es ihm noch mal, aber er findet nicht die richtigen deutschen Worte für das, was die Zöllner fragen.

Vater öffnet das Handschuhfach und deutet mit der Hand an: Bitte bedienen Sie sich. Zigaretten, Kugelschreiber, Rasierklingen – nichts interessiert diese Zöllner. Mich interessiert das alles plötzlich auch nicht. Ich bin ausgestiegen, laufe ein paar Schritte auf dem Perron zwischen den Fahrspuren.

Da ist ein Mädchen. Ein Mädchen wie Milch und Honig. Schlank in Jeans, kurze braune Haare, Pagenfrisur, runder Kopf, rundes Gesicht, frische, glatte Haut und diese schwarzen Augen, leicht geschlitzt, ungarisch …

Sie macht es genau wie ich. Ist ausgestiegen und wartet. Mal geht sie zum Auto zurück, es hat eine französische Nummer, dann kommt sie wieder. Sie ist Französin.

Wir sehen uns an, ich traue mich nicht. Ein paar Brocken Französisch kann ich ja. Aber hier vor allen Leuten einfach ein Mädchen ansprechen, noch dazu in einer Fremdsprache, auch wenn sie so schön ist wie diese da, nein das traue ich mich nicht.

Noch lange, nachdem wir durch die Grenze sind, denke ich an das Mädchen. Und auch heute habe ich sie nicht vergessen.

Die Grenze hat uns ein paar Stunden aufgehalten. Nach Budapest ist es nicht weit.

Es wird nicht angehalten. Das könnte zu teuer werden. Schließlich haben wir genug belegte Brote und kalten Tee für unterwegs, sogar noch eine Literflasche Rotwein für Vater findet sich.

Wie heißt das Geld hier, Opa? Forinth. Haben wir überhaupt Forinth dabei? Ich denke schon, es muss ja getankt werden. Mit dem Schwarzkurs kennen wir uns nicht aus. Die betrügen doch sowieso alle. Aber es gibt nur so viele Forinth, wie getankt werden muss.

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WolfgangRill